Kurt-Helmuth Eimuth – Die Sekten-Kinder
Als Beth Ehrlich elf Jahre alt war, unterschrieb sie ihren ersten Vertrag – Dauer: eine Milliarde Jahre. Wenn sie den Vertrag unterschriebe, würde sie die Welt retten helfen, hatte ihr ihr Vater erklärt. Das wollte Beth selbstverständlich. Doch mit der Unterschrift hatte sie ihr Leben an Scientology verpfändet.
„Das Schicksal von Kindern, die in Sekten aufwachsen, wird noch viel zu wenig beachtet“, meint Kurt-Helmuth Eimuth. Jahrelang hat der Pädagoge Material und Schicksale wie das der Beth Ehrlich gesammelt. Als kirchlicher Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen in Frankfurt sprach er mit Betroffenen, mit Angehörigen und mit Aussteigern. Sein Buch über „Sekten-Kinder“ ist eine erschreckende Bestandsaufnahme. Ein Dokument schwärzester Pädagogik, die religiös verbrämt und mit vermeintlich göttlichen Weihen versehen wird; ein Horrortrip durch die Kinderstuben destruktiver Kulte und fundamentalistischer Christen, in denen statt Liebe die „Rute Gottes“ regiert.
Zum Beispiel in den Schulen der Krishna-Bewegung „ISKCON“. „In Indien sehen wir, wie gut die jungen Brahmacaris arbeiten“, zitiert Eimuth aus einem Erziehungshandbuch; „sie gehen am frühen Morgen hinaus und betteln den ganzen Tag… Wenn sie darin eingeübt werden, dass Entsagung sehr angenehm ist, dann werden sie nicht verderben.“ Fast zu harmlos klingt Eimuths Fazit: „Die Grenze zur Indoktrination scheint überschritten.“
In noch früherem Kindesalter beginnt der indische Guru Sant Thakar Singh mit dem Drill im Namen Gottes. „Unmittelbar nach der Geburt“ sollen Kinder „in Hören und Sehen eingeweiht werden“ – zunächst mit dem elterlichen Finger, dann mit Silikon-Ohrstöpseln und Augenbinden. In Dunkelheit und Geräuschlosigkeit sollen die Kinder Gott näherkommen. Und wenn sie die Augen denn mal öffnen dürfen, sorgt ein „abwaschbares, reißfestes Fotoalbum mit Bildern des Meisters“ für die Prägung auf den Guru.
Kinder bedeuten Zukunft – Sekten setzen diesen richtigen Sachverhalt konsequent für sich um. Sie wissen: Schaffen sie es, Kinder im frühen Lebensalter auf die eigene Ideologie einzuschwören, werden sie später aus einem Heer gehorsamer Gefolgsleute schöpfen können: roboterartige Kreaturen, denen Gedanken- und Religionsfreiheit genauso fern liegen wie Kritikfähigkeit und Individualität. Nachvollziehbar also, warum viele Kulte versuchen, den Nachwuchs von Geburt an nicht mehr aus den Augen lassen.
Befürchtungen hegt Eimuth auch gegen einige Kreise der neo-charismatischen Bewegung. Besonders die „fundamentalistische Interpretation alttestamentlicher Züchtigungsvorschriften“ gebe Anlass zu Sorge. Mit Hinweis auf die Bibel würden Kinder geschlagen; schließlich habe sogar Gott seinem Sohn das Leiden nicht erspart. „Im Alter von zehn Jahren hatte Christa dieses Prinzip so sehr begriffen, dass sie einen besonderen Stock verzierte und mit der Aufschrift versah: ‚Die Rute Gottes‘ und ihn ihren Eltern zu liebevollem Gebrauch überreichte.“ Dass neocharismatische Gruppen hier offensichtlich ähnliche pädagogische Ziele wie klassische Sekten anstreben, legitimiert die Aufnahme in ein Buch mit dem Titel „Sekten-Kinder“.
Hilfreich sind Einuths abschließende Ratschläge für alle, die für Kinder Verantwortung tragen. Er plädiert für Information, für besondere Zuwendung gegenüber Sektenkindern und tritt gegen eine Verteufelung oder gar Abschottung ein.
Kurt-Helmuth Eimuth: Die Sekten-Kinder. Mißbraucht und betrogen – Erfahrungen und Ratschläge. Herder, Freiburg 1997, 239 Seiten, ISBN 3451045397