Geiko Müller-Fahrenholz – Vergebung macht frei

Geiko Müller-Fahrenholz – Vergebung macht frei

Einige ökumenisch gesinnte Christen ärgern sich darüber, dass ausgerechnet der Begriff „Versöhnung“ für die großen Versammlungen im Rahmen des „Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ ausgewählt wurde. Sie befürchten, dass Versöhnung missverstanden werden könnte als allzu billige Methode, Ungerechtigkeiten mit dem Mantel vorschneller Harmonie zu bedecken.

Geiko Müller-Fahrenholz‘ neues Buch räumt diese Bedenken aus und verleiht der Diskussion Tiefe. „Vergebung macht frei“ heißt es, im Untertitel verspricht der Autor „Vorschläge für eine Theologie der Versöhnung“. Die Vorsicht dieser Formulierung ist keine Koketterie.

Mit einer Geschichte von Simon Wiesenthal beginnt Müller-Fahrenholz sein essayistisches Buch. Wiesenthal beschreibt eine Begebenheit im Konzentrationslager Lemberg. Eines Tages wird dort ein Insasse an das Bett eines 21-jährigen SS-Mannes geholt, der im Sterben liegt und ihm als einem Juden seine Mordtaten an jüdischen Menschen beichtet. Wiesenthal lässt keinen Zweifel daran, dass das Geständnis des jungen Deutschen aufrichtig ist. Zwischen Abscheu und Mitleid hin- und hergerissen, verlässt der Jude das Zimmer des Sterbenden. Ein Wort der Vergebung bringt er nicht über die Lippen.

„Die Zumutung, die Wiesenthal in dieser Geschichte beschreibt, erreicht die Grenze des Erträglichen. Hätte der KZ-Insasse vergeben sollen? Wäre das ein Akt sinnvoller, wirklicher Vergebung gewesen? Oder sind Versöhnung und Vergebung übermenschliche Ansinnen, muss also die Bitte um Vergebung vor Auschwitz kapitulieren?“

Nein, meint Müller-Fahrenholz – und nähert sich der Thematik mit einem kräftigen Schuss Kirchenkritik. Die Kirche habe das Amt der Vergebung, das Bußsakrament, als Machtinstrument missbraucht. Weil sie Vergebung stets auf die reine Gottesbeziehung beschränkt habe, sei Vergebung aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeklammert worden. Und wenn Kirche doch Vergebung im politischen Bereich gefordert habe, sei es ihr mehr um die Entschuldigung der Täter als um Befreiung der Opfer gegangen.

Doch heute habe Kirche sowieso ihre Macht verloren, „praktischer Atheismus ist gegenwärtig“. „Sünde“ als allgemein anerkannte Kategorie gebe es nicht mehr. Aber „die Realität der Schuld kann niemand leugnen“. Müller-Fahrenholz entpuppt sich als progressiver Missionar, wenn er schreibt: „Ich bin der Auffassung, dass auch solche Menschen, die eine religiöse Prämisse ablehnen, die Kräfte finden können, die es ihnen ermöglichen, über das Verhängnis ihrer Schuldverflochtenheit hinauszugelangen“.

Um das zu erreichen, löst Müller-Fahrenholz den Begriff „Versöhnung“ ganz von der vermeintlichen kirchlichen Verfälschung. Mit psychologischen und ethischen Deutungen versucht er, zu beweisen: Wem an einem würdevollen Miteinander gelegen ist, der hat gar keine andere Wahl, als Vergebung zu leben. Wer Befreiung finden möchte, der muss den Weg der Vergebung einschlagen.

Der gehört zu den schwersten, denn er ist gepflastert von Schmerz und von Schuldeingeständnis. Und er kostet Mut. Denn es geht nicht um die Wiederherstellung alter Zustände oder um das Ende eines Konflikts. Nein, Vergebung führt in einen neuen Zustand, einen heileren als zuvor. Die Kraft, die Vergebung freisetzt, „lässt uns erfahren, wozu Humanität fähig ist“, schreibt Müller-Fahrenholz. „Dieses tiefste Fundament des Menschlichen können wir Großmut nennen, oder auch Güte oder Weisheit. Ich nenne es Gnade.“

Geiko Müller-Fahrenholz: Vergebung macht frei. Vorschläge für eine Theologie der Versöhnung. Lembeck, Frankfurt a. M. 1996, 171 Seiten, ISBN: 3874763129

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