Thomas Rahe – Höre Israel

Thomas Rahe – Höre Israel

Wie haben jüdische Gefangene im Schreckens-System der nationalsozialistischen Konzentrationslager ihren Glauben gelebt? Und wie haben sie das eigene Schicksal gedeutet? Diesen Fragen geht der Historiker Thomas Rahe nach. Die christliche Theologie, beklagt Rahe, habe die Herausforderung einer „Theologie nach Auschwitz” zwar benannt; gerecht werde sie ihr im ganzen jedoch noch nicht. Das liegt Rahe zufolge auch darin begründet, dass das historische Wissen über jüdische Religiosität in Konzentrationslagern bislang fehle. Diesem Mangel will er abhelfen – und tut es kompetent und sensibel. Als wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen hat er viele Quellen zusammengetragen, zusätzlich Überlebende des Holocaust in Interviews befragt. Auf diese Weise steuert Rahe einer „Akademisierung des Holocaust” entgegen, die nach Meinung ehemaliger KZ-Insassen das Leid beschreibe, systematisiere und kategorisiere und darüber die Überlebenden statt als Zeugen ernst zu nehmen zum „Rohmaterial” verdingliche. Behutsam verbindet und erklärt Rahe die Zeugenberichte; dabei verfällt er nicht der Versuchung, mit ihnen bloß seine eigenen Thesen zu untermauern. Authentisch und ungeschönt entstehen so eindrucksvolle Bilder des Lager-Lebens und -Sterbens vor den Augen des Lesers. Trotz aller schwer fassbaren Brutalität und Unterdrückung lebte ein Teil der jüdischen KZ-Häftlinge den Glauben – so weit wie möglich und entgegen allen SS-Vorschriften. Vor allem orthodoxe Juden aus Polen tauschten ins Lager geschmuggelte Gebetsriemen und -tücher aus; sie beteten, versuchten weiterhin, sich koscher zu ernähren und trotzten so den Versuchen der Nazis, die jüdische Glaubenspraxis vollends zu unterbinden. Nachts beteten sei bei Kerzenschein, feierten – insgeheim – jüdische Festtage. Sogar die Würde der Toten versuchten jüdische Gefangene zu wahren, indem sie noch in den Krematorien den Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprachen. In der gläubigen Bewertung ihres Schicksals gingen die Meinungen der jüdischen Gefangenen auseinander. Eher Strenggläubige deuteten das Leid als Gottes Strafe für fehlenden Gottesgehorsam; ihr Schicksal stellten sie in eine Reihe mit früheren Judenverfolgungen. Andere verloren ihren Glauben gänzlich.

Thomas Rahe: Höre Israel. Jüdische Religiosität in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1999, 263 Seiten, ISBN: 3525013787

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